Die Sowjetukraine - Labor und Schlachtfeld der Moderne
- Datum: 3. Juli 2025, 14:15 Uhr
- Ort: Universität Regensburg, Campus Sammelgebäude, Raum 214
- Referentin: Anna Veronika Wendland
- Veranstalter: Lehrstuhl Geschichte Südost‐ und Osteuropas an der Universität Regensburg Leibniz-Institut für Ost‐ und Südosteuropaforschung, Regensburg in Kooperation mit der Graduiertenschule für Ost‐ und Südosteuropastudien, und dem Leibniz WissenschaftsCampus “Europa und Amerika in der modernen Welt” und dem Zentrum für interdisziplinäre Ukrainestudien „Denkraum Ukraine“, gefördert vom DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) aus Mitteln des Auswärtigen Amts (AA)
- Sprache: Deutsch
Der Vortrag findet im Rahmen des Forschungskolloquiums „Geschichte und Sozialanthropologie Südost‐ und Osteuropas“. Das Programm des Kolloquiums finden Sie unter dem Link.
Die Geschichte der Sowjetukraine ist eines der umstrittensten Felder in der ukrainischen Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Wie auf kaum ein anderes Land trifft das Hobsbawmsche Diktum vom 20. Jahrhundert als eines "Zeitalters der Extreme" auf die sieben Jahrzehnte sowjetischer Herrschaft über die Ukraine zu, in die auch der Zweite Weltkrieg und die deutsche Okkupation fielen.
Zwischen 1922 und 1991 erlebten die Bürgerinnen und Bürger der Sowjetukraine nicht nur entsetzliche Erfahrungen von Zwangskollektivierung, stalinistischem Massenterror, Hungersnot, Genozid, Kriegsgewalt und ökologischer Katastrophe, sondern auch die erstmalige Demarkation "ukrainischer" Grenzen auf den Karten der Sowjetunion und der Welt - und den Aufstieg ihrer Sowjetrepublik zur "Secunda inter pares" bei der Beherrschung der Sowjetunion in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs. Neben den Katastrophen stehen kulturelle Aufbrüche und Avantgarden, große Hoffnungen auf die Befreiung der Ukraine von Fremdherrschaft und die Befreiung der ukrainischen Frauen - und vor allem die lange Geschichte der ukrainischen sozialen Mobilisierung von der Bauernnation zur urbanisierten Industriegesellschaft.
Doch nicht nur die ukrainische Gesellschaft und Demografie wurde in der Sowjetunion umgekrempelt - auch die ukrainischen Landschaften wurden es: Kollektivierung und Agrarindustrie, Städtewachstum, Schwerindustrie, Wasserkraft und Kernenergie prägten sich ihnen mit irreversiblen Folgen auf. Man kann also auch die Umweltgeschichte der Sowjetukraine als Umbruchsgeschichte schreiben.
Die Ukrainer verbanden und verbinden mit der sowjetischen Epoche also hoch ambivalente Erinnerungen, die zudem seit 1991 von den Geschichtspolitiken der postsowjetischen Ukraine geformt werden. Anders als in Russland sind ukrainische Archive der Sowjetepoche nach wie vor der Forschung zugänglich, was sie von einer früher wenig beachteten Peripherie der Soviet Studies zu einem womöglich künftigen Zentrum der Erforschung der sowjetischen Geschichte durch die Gegenüberlieferung der Peripherie machen wird. Seit einigen Jahren wird der Blick auf die Sowjetukraine nochmals revidiert, weil die Ukrainer sie nun durch das Prisma der neuen Gewalterfahrung im russischen Angriffskrieg wahrnehmen, in dem sich vorgängige Erfahrungen russisch-imperialer Gewalt gegen ukrainische Menschen, Sprache und Kultur zu wiederholen scheinen. Das macht eine nüchterne historische Einschätzung der Bedeutung der Sowjetukraine für die ukrainische Nationsbildung nicht einfach.
Der Vortrag ist ein Diskussionsangebot in einem frühen Projektstadium, in dem einige Thesen getestet werden. Aus einer Vorlesung über die Geschichte der Sowjetukraine soll eine Monografie nebst Online-Quellenmodulen entstehen. Geleitet wird das Vorhaben von der Idee einer doppelten Blickumkehrung - erstens einer Sicht auf die Geschichte der Sowjetunion aus der Perspektive ihrer Peripherien, zweitens aber auch der Sicht auf die Ukraine durch eine nichtukrainische Autorin, die manche Aspekte der sowjetukrainischen Geschichte anders wahrnimmt als die direkt Betroffenen. Dazu tritt der Anspruch, vormals weniger beachtete Aspekte der ukrainischen Geschichte wie ihre Umwelt-, Industrie- und Technikgeschichte in eine Gesamtdarstellung der Sowjetukraine als Labor und Schlachtfeld der Moderne zu integrieren.
Anna Veronika Wendland
PD Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa- und Technikhistorikerin. Studium und Promotion in Köln und Kyjiw, berufliche Stationen am GWZO Leipzig und der LMU München, seit 2009 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Marburger Herder-Institut für Historische Ostmitteleuropaforschung. Projektleiterin und Assoziierte am Sonderforschungsbereich SFB-TRR 138 „Dynamiken der Sicherheit“. Arbeitsschwerpunkte in der Nationalismusforschung, Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen, Urban History, Umwelt- und Technikgeschichte der Ukraine.
Für ihre Habilitationsschrift „Kerntechnische Moderne. Atomstädte, nukleare Arbeitswelten und Reaktorsicherheit in Ost- und Westeuropa 1966-2021“ forschte Wendland über mehrere Jahre hinweg als Langzeitbeobachterin von Mensch-Maschine-Beziehungen in Kernkraftwerken in der Ukraine und Deutschland. Seit der russischen Invasion in die Ukraine 2022 ist sie häufige Ansprechpartnerin für Medien und Politik für Probleme der kerntechnischen Sicherheit in der Ukraine. 2023 publizierte sie eine Überblicksdarstellung der Geschichte der Ukraine (Befreiungskrieg. Nationsbildung und Gewalt in der Ukraine, Campus: Frankfurt-New York, 2023).
For her habilitation thesis “Kerntechnische Moderne. Nuclear Cities, Nuclear Working Environments and Reactor Safety in Eastern and Western Europe 1966-2021”, Wendland conducted research over several years as a long-term observer of human-machine relationships in nuclear power plants in Ukraine and Germany. Since the Russian invasion of Ukraine in 2022, she has been a frequent point of contact for the media and politicians on nuclear safety issues in Ukraine. In 2023, she published an overview of the history of Ukraine (Befreiungskrieg. Nation Building and Violence in Ukraine, Campus: Frankfurt-New York, 2023).
Fotograf: David Severin Osadchuk

Datum
03.07.2025
Zeit
14:15 - 15:45
Kategorie
Vortrag
Organisator
Lehrstuhl Geschichte Südost‐ und Osteuropas an der Universität Regensburg Leibniz-Institut für Ost‐ und Südosteuropaforschung, Regensburg in Kooperation mit der Graduiertenschule für Ost‐ und Südosteuropastudien, und dem Leibniz WissenschaftsCampus “Europ
Ort
Universität Regensburg, Campus Sammelgebäude, Raum 214
Universität Regensburg, Campus Sammelgebäude, Raum 214